Sozialpädagoge Matthias Welte klärt in unserem allerersten Jahresbericht 2020 wie es zu kriminellen Jugendlichen kommen kann.
«EIN DELINQUENTER JUGENDLICHER IST LETZTENDLICH DAS
ENDPRODUKT EINER JAHRELANGEN FEHLENTWICKLUNG.»
Matthias Welte ist Berater und Manager im Sozialbereich und
unterstützt den Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» in
Fragen der Organisationsberatung. Welte verfügt über langjährige
Berufserfahrungen im stationären Bereich der Kinder und
Jugendhilfe und arbeitete mehrere Jahre mit straffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Herr Welte, Sie arbeiten seit vielen Jahren mit Jugendlichen
in schwierigen Situationen. Was können die Projekte von «Gefangene
helfen Jugendlichen», diesen Jugendlichen vermitteln?
Das Projekt GhJ setzt mit Präventionskampagnen dort an,
wo Eltern, Lehrpersonen und sozial Arbeitende oftmals nicht
mehr zu den Jugendlichen vordringen können. GhJ setzt ganz
bewusst Mitarbeitende ein, die diese Phase der Orientierungslosigkeit
durchlebt haben und selbst delinquent wurden. Dies kann
bei Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung gefährdet sind, genau
der Ansatz sein, sich Gehör zu verschaffen und Botschaften zu
vermitteln, da davon auszugehen ist, dass die Jugendlichen
dem Dozierenden ein hohes Mass an Kongruenz zubilligen. Das
Gefühl, dass ein Erwachsener mit demselben Sozialisationshintergrund
davon berichtet, wie er diese Zeit erlebt hat, kann
zu Solidarität, Glaubhaftigkeit und sehr hoher Aufmerksamkeit
für dieses Thema führen. In der Nachbearbeitung eines Präventionsanlasses
kann es zu kritischen Auseinandersetzungen
innerhalb der Peers kommen, was beim einen oder anderen
Jugendlichen zu einem Umdenken führen kann.
Laut den Zahlen des Bundesamt für Statistik (BFS) sinkt die
Kriminalität in der Schweiz. Aber im Bereich der Jugendkriminalität
steigt sie und die Täter werden immer jünger. Deckt sich
das mit Ihrer Erfahrung in der Praxis?
Es scheint mir wichtig, die neusten Entwicklungen analytisch zu
betrachten. Was sind die Ursachen? Entspricht die Entwicklung
proportional den aktuell starken Geburtsjahrgängen? Wird der
gesunden Entwicklung vor allem im frühkindlichen Alter genügend
Aufmerksamkeit geschenkt? Haben Eltern, Kindergärten
und Schulen ausreichend Ressourcen und Fachwissen um einer
veränderten Lebenswelt gerecht zu werden?
Meiner These nach, kommt kein Mensch mit krimineller Genetik
zur Welt sondern wird aus Gründen der eigenen Sozialisation zu
dem was er wird. Ein delinquenter Jugendlicher ist letztendlich
das Endprodukt einer jahrelangen Fehlentwicklung, die es zu
erkennen und zu korrigieren gilt. In der stationären Kinder- und
Jugendhilfe erleben wir dieses Phänomen bei fast allen Klientel.
Anamnestische Erhebungen und Verlaufsberichte fördern
praktisch immer dieselben Verläufe zu Tage. Schon in frühster
Kindheit werden unterschiedliche Auffälligkeiten beobachtet
und es liegt der Schluss nahe, dass diese Auffälligkeiten nur in
unzureichender Art und Weise in Korrektur gebracht wurden.
Wenn ein Kind dann die Schwelle zur Pubertät durchschreitet,
kommt oftmals eine hormonbedingte Dynamik dazu, was zu
nicht mehr steuerbaren Verhalten führen kann.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Ich vertrete die These, dass bereits in der Frühförderung (Vorschulalter)
sehr genau das Verhalten der Kinder zu beobachten
ist und bei Bedarf ein individueller Förderplan erstellt werden
sollte wo systemisch aufgebaut ist. Damit meine ich, dass das
gesamte soziale Umfeld bei diesen Veränderungen miteinbezogen
werden muss. Was nützt es zum Beispiel einem Kind, dass
im schulischen Umfeld alle erdenklichen Unterstützungen unterbreitet
werden und im familiären Umfeld weiterhin Gewalt als
pädagogisches Mittel praktiziert wird? Kinder brauchen Strukturen
und tragfähige Beziehungen um sich adäquat zu entwickeln.
Ich vertrete auch die Meinung, dass das Angebot der stationären
Kinder- und Jugendhilfe überarbeitet werden sollte, da ich
eine zu starke Komprimierung von sozial auffälligen Kindern
und Jugendliche für problematisch halte. Wenn diese Kinder nur
noch mit «Gleichgesinnten» ihren Alltag verbringen, fehlt m.M.n.
das vergleichende Element zu Kindern und Jugendlichen, die
eine adäquate Entwicklung machen.
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