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AutorenbildAndrea Thelen

Spannendes Interview über Jugendkriminalität

Aktualisiert: 24. Mai 2021

Sozialpädagoge Matthias Welte klärt in unserem allerersten Jahresbericht 2020 wie es zu kriminellen Jugendlichen kommen kann.


«EIN DELINQUENTER JUGENDLICHER IST LETZTENDLICH DAS

ENDPRODUKT EINER JAHRELANGEN FEHLENTWICKLUNG.»


Matthias Welte ist Berater und Manager im Sozialbereich und

unterstützt den Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» in

Fragen der Organisationsberatung. Welte verfügt über langjährige

Berufserfahrungen im stationären Bereich der Kinder und

Jugendhilfe und arbeitete mehrere Jahre mit straffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.


Herr Welte, Sie arbeiten seit vielen Jahren mit Jugendlichen

in schwierigen Situationen. Was können die Projekte von «Gefangene

helfen Jugendlichen», diesen Jugendlichen vermitteln?

Das Projekt GhJ setzt mit Präventionskampagnen dort an,

wo Eltern, Lehrpersonen und sozial Arbeitende oftmals nicht

mehr zu den Jugendlichen vordringen können. GhJ setzt ganz

bewusst Mitarbeitende ein, die diese Phase der Orientierungslosigkeit

durchlebt haben und selbst delinquent wurden. Dies kann

bei Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung gefährdet sind, genau

der Ansatz sein, sich Gehör zu verschaffen und Botschaften zu

vermitteln, da davon auszugehen ist, dass die Jugendlichen

dem Dozierenden ein hohes Mass an Kongruenz zubilligen. Das

Gefühl, dass ein Erwachsener mit demselben Sozialisationshintergrund

davon berichtet, wie er diese Zeit erlebt hat, kann

zu Solidarität, Glaubhaftigkeit und sehr hoher Aufmerksamkeit

für dieses Thema führen. In der Nachbearbeitung eines Präventionsanlasses

kann es zu kritischen Auseinandersetzungen

innerhalb der Peers kommen, was beim einen oder anderen

Jugendlichen zu einem Umdenken führen kann.


Laut den Zahlen des Bundesamt für Statistik (BFS) sinkt die

Kriminalität in der Schweiz. Aber im Bereich der Jugendkriminalität

steigt sie und die Täter werden immer jünger. Deckt sich

das mit Ihrer Erfahrung in der Praxis?

Es scheint mir wichtig, die neusten Entwicklungen analytisch zu

betrachten. Was sind die Ursachen? Entspricht die Entwicklung

proportional den aktuell starken Geburtsjahrgängen? Wird der

gesunden Entwicklung vor allem im frühkindlichen Alter genügend

Aufmerksamkeit geschenkt? Haben Eltern, Kindergärten

und Schulen ausreichend Ressourcen und Fachwissen um einer

veränderten Lebenswelt gerecht zu werden?

Meiner These nach, kommt kein Mensch mit krimineller Genetik

zur Welt sondern wird aus Gründen der eigenen Sozialisation zu

dem was er wird. Ein delinquenter Jugendlicher ist letztendlich

das Endprodukt einer jahrelangen Fehlentwicklung, die es zu

erkennen und zu korrigieren gilt. In der stationären Kinder- und

Jugendhilfe erleben wir dieses Phänomen bei fast allen Klientel.

Anamnestische Erhebungen und Verlaufsberichte fördern

praktisch immer dieselben Verläufe zu Tage. Schon in frühster

Kindheit werden unterschiedliche Auffälligkeiten beobachtet

und es liegt der Schluss nahe, dass diese Auffälligkeiten nur in

unzureichender Art und Weise in Korrektur gebracht wurden.

Wenn ein Kind dann die Schwelle zur Pubertät durchschreitet,

kommt oftmals eine hormonbedingte Dynamik dazu, was zu

nicht mehr steuerbaren Verhalten führen kann.


Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Ich vertrete die These, dass bereits in der Frühförderung (Vorschulalter)

sehr genau das Verhalten der Kinder zu beobachten

ist und bei Bedarf ein individueller Förderplan erstellt werden

sollte wo systemisch aufgebaut ist. Damit meine ich, dass das

gesamte soziale Umfeld bei diesen Veränderungen miteinbezogen

werden muss. Was nützt es zum Beispiel einem Kind, dass

im schulischen Umfeld alle erdenklichen Unterstützungen unterbreitet

werden und im familiären Umfeld weiterhin Gewalt als

pädagogisches Mittel praktiziert wird? Kinder brauchen Strukturen

und tragfähige Beziehungen um sich adäquat zu entwickeln.

Ich vertrete auch die Meinung, dass das Angebot der stationären

Kinder- und Jugendhilfe überarbeitet werden sollte, da ich

eine zu starke Komprimierung von sozial auffälligen Kindern

und Jugendliche für problematisch halte. Wenn diese Kinder nur

noch mit «Gleichgesinnten» ihren Alltag verbringen, fehlt m.M.n.

das vergleichende Element zu Kindern und Jugendlichen, die

eine adäquate Entwicklung machen.


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