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  • Natascha

"Die Freiheit gebe ich nicht mehr her"

Jugendheim. Pflegefamilie. Jugendknast. U-Haft. Hochsicherheitsgefängnis.


In seinem jungen Leben hat Ilias schon Einiges erlebt – mit gerade einmal 27 Jahren. Im November 2019 ist er aus der Haft entlassen worden. Wegen guter Führung.

Heute ist er auf Bewährung frei und arbeitet als Projektleiter bei Gefangene helfen Jugendlichen, Schweiz. Sein Ziel: Jugendliche mit seiner Geschichte aufklären, zum Nachdenken anregen und vor einem ähnlichen Weg bewahren. Für den jungen Zürcher eine Herzensangelegenheit.


Wenn Ilias heute von seiner persönlichen Geschichte erzählt, beginnt er im Primarschulalter: „Mit 9 Jahren bin ich aus meiner Familie gerissen worden.“ Etwa im selben Alter ist er durch sein Verhalten immer öfter aufgefallen, hatte kleine Raufereien auf dem Schulhof oder „Time out“-Verweise in der Klasse. Ilias verbrachte den grössten Teil seiner Jugend bei Pflegefamilien, in verschiedenen offenen und geschlossenen Jugendinstitutionen und schliesslich auch in Jugendgefängnissen, das erste Mal als er 14 Jahre alt war. „Seit meinem zehnten Lebensjahr hatte ich so viele Wechsel“, erklärt er. „Viele Dinge habe ich mittlerweile vergessen oder verdrängt.“


Schon in seiner frühen Jugend geriet er auf die schiefe Bahn. Er beging Einbrüche, Diebstähle und Drogendelikte und war Teil einer grossen Jugendbande im Kanton Zürich. „Dazumals fühlte ich mich unter diesen Leuten sicher und angenommen. Rückblickend sehe ich das anders."

In seiner Vergangenheit ist er oft in einem gefährlichen Milieu unterwegs gewesen. „Es gab schon ein paar Situationen, in denen mich jemand abstechen wollte“, sagt er heute. Mehrmals ist er an einem Punkt angekommen, an dem er gemerkt hat, dass es so nicht weitergehen könnte: „Schon dreimal war ich in Situationen, in denen ich dachte 'Ich kratze ab' oder 'Wenn ich so weitermache, kann ich mir direkt die Kugel geben.'“


Viele der Facetten, die eine kriminelle Laufbahn mit sich bringt, hat Ilias zu spüren bekommen: „Vom tiefsten Punkt bis zum totalen Wahnsinn. Vom exzessiven Lebensstil mit Geld, Liebe, Macht und Ruhm hin zu Gefühlen wie Traurigkeit, Angst und Hilflosigkeit“, schildert er. Besonders die Erfahrung, dass er von seinen Freunden im Stich gelassen wurde, als es ihm sehr schlecht ging, hat ihm sehr zugesetzt. „Das hat mich heftig mitgenommen bis heute...“ Letzte Station seiner kriminellen Laufbahn war „Pöschwies", das grösste Hochsicherheitsgefängnis in der Schweiz. „Ich brauchte diesen Schlag in die Fresse, um aufzuwachen."



Im November 2019 wurde er auf Bewährung entlassen und arbeitet nun als Projektleiter im Verein Gefangene helfen Jugendlichen, (kurz GhJ). Eine Arbeit, die der junge Zürcher mit Herzblut angeht. „Ich konnte mittlerweile schon viel über Präventionsarbeit lernen. Es macht mich glücklich, Jugendliche durch meine Geschichte, und auch durch vieles, was ich dazu gelernt habe, aufzuklären, um sie von einer kriminellen Laufbahn abzuhalten.“


Nach seiner Entlassung im vergangenen Jahr ging er auf Jobsuche. Zur gleichen Zeit war die Geschäftsführerin von GhJ, Andrea Thelen, auf der Suche nach einem Mitarbeiter für die Projekte. „Als ich für den Job angefragt wurde, sah ich die Chance meines Lebens“, so der 27- Jährige. Also hat er sich zu einem Gespräch mit der Geschäftsführerin und einem Mitarbeiter des Vereins getroffen. „Kurze Zeit später konnte ich ich nach Hamburg zu Volkert Ruhe, dem Gründer und Geschäftsführer von Gefangene helfen Jugendlichen e.V., fahren. Ich habe Volkert direkt ins Herz geschlossen und grossen Respekt vor seiner Geschichte. Ich fühlte mich geehrt, in Hamburg bei den Projekten mitmachen zu dürfen und ein Teil davon zu sein.“



Ilias hat sich schon immer vorstellen können, im sozialen Bereich zu arbeiten. Doch die ersten Einblicke in die Arbeit und die Projekte sind zunächst gar nicht so einfach für ihn gewesen: „Die ersten Erfahrungen waren brutal fordernd für mich.“ Es ist dabei vor allem immer wieder neu für ihn, vor Jugendlichen, Lehrern, Sozialpädagogen, Gefängnisdirektoren oder Medien zu stehen und seine Geschichte zu erzählen. „Und als ich zurück in der Schweiz war, wusste ich: Das ist eine Arbeit, die perfekt auf mich zugeschnitten ist. Hier kann ich arbeiten und Gutes tun. Durch meine persönlichen Erfahrungen im Leben kann ich Eindrücke schaffen und mich Stück für Stück in die Arbeit im sozialen Bereich einbringen und weiterentwickeln, was schlussendlich allen Beteiligten etwas bringen kann“, erklärt er und erläutert, dass die Arbeit auch ihm hilft, seine eigene Geschichte – Schritt für Schritt – aufarbeiten zu können.


In erster Linie geht es ihm dabei jedoch um die Jugendlichen: „Ich möchte ihnen aufzeigen, wo das Ganze endet. Wie beschissen und elendig es sich anfühlt, in einer Zelle zu sitzen und fremdbestimmt zu werden. Und ich möchte ihnen auch alle anderen Umstände aufzeigen, die mit einer kriminellen Karriere einhergehen, wie zum Beispiel Opfer, Schulden, Depressionen, Alleinesein.“ Die Zeit hinter Gittern hat ihn sehr geprägt – wie sehr, bekommt er auch heute noch oft zu spüren. Nach all den Jahren unter Freiheitsentzug und Fremdbestimmung im Knast hat er mit einem Haftschaden zu kämpfen. Das ist ihm vor allem bei einem Projekt noch einmal bewusst geworden: „Was mir schwer gefallen ist, waren die Momente während eines Gefängnisbesuchs, wo ich in der Führung plötzlich im Bunker, also der Isolationshaft, oder den Zellen stand und mich selber wieder dort gesehen haben in meinen Gedanken.“


Einen weiteren Moment, der besonders einprägsam für ihn war, erlebte er in einem Präventionsunterricht: „Das war, als ich zum ersten Mal eine Art Nahtoderfahrung durch gestreckte Drogen erlebte." Das ist eine grosse Herausforderung für ihn gewesen. „Weil ich zuvor gar nicht darüber gesprochen hatte, sodass es mich noch Wochen danach beschäftigt hat...“


Für Ilias ist seine Arbeit als Projektleiter von GhJ sehr wichtig geworden. „Ich mache diesen Job, weil es eine sinnvolle Arbeit ist und ich das Gefühl habe, dass ich damit etwas bewirken kann." Seine Ehrlichkeit und Authentizität ermöglichen ihm, mit Jugendlichen auf Augenhöhe zu reden; und die Jungen hören ihm zu. „Ich möchte kein Lehrer sein und die Jugendlichen auch nicht belehren, das kann ich nicht. Und es liegt in ihrer eigenen Hand, was sie mit ihrem Leben machen. Aber wenn ich durch meine Geschichte und meine Aufklärung nur zwei von zehn Jugendlichen zum Nachdenken bringen kann und sie durch meine Erfahrungen diesen Weg nicht einschlagen, habe ich mein Ziel erreicht.“


Wenn Ilias auf die Anfänge seiner Vergangenheit zurückblickt, sagt er: „Ich denke, mit dem Ansatz, wie GhJ arbeitet und Erfahrungen ehemaliger Strafgefangener vermittelt, hätte mir so ein Projekt auf jeden Fall geholfen. Ich bin mir sicher, dass es mir was gebracht hätte – vor allem in meiner kriminellen Anfangszeit. Deshalb denke ich, dass die Herangehensweise in den Projekten von GhJ einer der besten Ansätze ist, Jugendliche vor einer kriminellen Laufbahn zu bewahren.“


Damals hat er niemanden gehabt, der ihm aus solchen persönlichen Erzählungen oder Erfahrungen etwas mit auf den Weg geben konnte, wie er es in den Projekten bei GhJ erlebt. Dennoch gibt es in seinem Leben Menschen, die ihn sehr geprägt und positiv beeinflusst haben. Da denkt er vor allem an seine Zeit in der Pflegefamilie zurück. „Ich muss sagen, dass mein Pflegevater mir sehr, sehr viel Gutes beigebracht hatte und bis heute eine wertvolle Unterstützung in meinem Leben ist. Er ist wie ein guter Vater für mich, den ich nie hatte...“


Seine Pflegefamilie spielt eine wichtige Rolle in Ilias' Leben und trotz seiner bewegten Vergangenheit denkt er noch heute gerne an die Zeit zurück: „Mir persönlich ging es nicht immer schlecht. Ich hätte meinen Lebensweg schon dort ändern können.“ Durch die Familie, die ihn aufgenommen hat, hat er eine Chance gehabt, auch viele schöne Dinge erleben zu können. Der Kontakt zu ihnen ist nie abgebrochen: „Ich habe diese wichtigen Menschen in schweren Zeiten gefunden, die mich bis heute begleiten.“


Zu den meisten Leuten von früher hat er heute jedoch keinen Kontakt mehr. „Begegnen tue ich diesen Leuten oft und sehr viel. Aber ich hab gelernt, meine Meinung zu sagen – und auch 'Nein' zu sagen. Es ist wichtig, dass man sich abgrenzen und fernhalten kann“, betont er. Auf die Frage, ob er Angst hat, rückfällig zu werden, sagt er selbstbewusst: „Nein.“ In der ganzen Zeit hat er viel dazu gelernt und ist erwachsen geworden, erzählt er. „Ich habe meinen Charakter nie verloren nach der ganzen Scheisse. Egal, wie scheisse es mir geht – es liegt in meiner Hand. Ich habe den Willen und die Kraft. Die Freiheit gebe ich nicht mehr her.“

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